Gerechtigkeit braucht Verzicht Selten ist die Realität einer Metapher so mit Händen zu greifen: im Gegenüber von Sandton und Soweto, zweier Städte innerhalb der metropolitanen Region von Johannesburg. Hier lässt sich ablesen, wie die Welt immer mehr einem Archipel von Wohlstandsinseln in einem Meer von Armut gleicht. Sandton ist eine üppige Enklave, auf einem grünen Hügelzug thronend, dessen ragender Turmbau die Umgebung beherrscht. Villen entlang schattiger Boulevards, manikürte Parkanlagen, schicke Restaurants, überall ist die Atmosphäre entspannten Wohlstands zu spüren. Seit Jahren flüchten Büros, Hotels und Geschäfte aus der Innenstadt in die geschützten Höhen, eine Zone von Wirtschaftsflaute und Kriminalität hinter sich lassend. In Sandton, so hört man, ist die höchste Konzentration an BMWs in ganz Afrika zu finden. Ganz anders in Soweto. Dicht drängen sich Behausungen, kein Schatten, kein Grün, öffentliche Plätze oder Gemeinschaftseinrichtungen sind nicht auszumachen. Kein Slum, aber eine Arbeitersiedlung ohne Gewerbe und Kaufkraft. Ehemals Hort des Widerstands gegen das Apartheidregime, ist Soweto heute immer noch und wieder die Hauptstadt der Marginalisierten. Südafrika, wie Johannesburg, ist ein Mikrokosmos der Dritten Welt. Gigantische soziale Gegensätze bei ausgezehrten Naturressourcen bestimmen das Bild. Kein Wunder, dass Südafrika aus dem Johannesburger UN-Nachhaltigkeitsgipfel in erster Linie einen Entwicklungs- und keinen Umweltgipfel machen möchte. * Noch das Wort von Indira Gandhi bei der Stockholm-Konferenz 1972 im Ohr, dass Armut die schlimmste Form der Umweltverschmutzung sei, bestehen die Südländer darauf, dass mehr Gerechtigkeit für die Armen das hohe Ziel des Weltgipfels sein müsse. Freilich steht zu befürchten, dass der Veranstaltungsort auch die Verhandlungsperspektive prägen wird: die Regierungskonferenz wird auf den Höhen von Sandton stattfinden, von Soweto Welten entfernt. Wie wird Gerechtigkeit in der Sandton-Perspektive thematisiert? Was wird ins Licht gerückt, was bleibt im Schatten? In der Sandton-Perspektive wird die Neigung vorherrschen, Armut und Ungleichheit in der Welt als eine Aufforderung zu verstehen, wirtschaftliches Wachstum voranzutreiben. Doch es käme einem Rückfall hinter Rio 1992 gleich, wenn vor lauter Konzentration auf die Entwicklung die weltweite Krise der Natur in den Hintergrund träte. Vor Rio konnte man sich diese Rücksicht noch sparen. Die Verbreitung von Wachstum in aller Welt, so war die geläufige Auffassung, würde automatisch auch die Gerechtigkeit fördern. Mit der Flut, wie die in Weltbankkreisen beliebte Metapher sagt, würden eben alle Boote steigen, ob Luxusliner oder Floße. Doch mit dem ökologischen Verhängnis ist diese optimistische Hypothese geplatzt. Um im Bild zu bleiben: während die Boote steigen, durchbricht die Flut die Dämme, und manch einer sitzt wieder auf dem Trockenen. Global gesehen - und oftmals auch lokal und regional - ist der Umweltraum endlich; im Rahmen dieser Endlichkeit hinreichenden Wohlstand für eine wachsende Zahl von Menschen hervorzubringen, das ist die Aufgabe des 21. Jahrhunderts. Seit die Naturgrenzen sichtbar geworden sind, muss deshalb Gerechtigkeit neu buchstabiert werden. Denn das Verlangen danach kann leicht mit der Stabilität der Biosphäre kollidieren. Es kann nicht mehr schlechthin um Wirtschaftswachstum gehen; Gerechtigkeit und Grenze müssen vielmehr zusammengedacht werden. Ohne Ökologie kann es keine Gerechtigkeit auf der Welt geben, sonst würde die Biosphäre in Turbulenzen gestürzt; wie es auch ohne Gerechtigkeit keine Ökologie geben kann, es sei denn eine menschenfeindliche. Die Sache der Gerechtigkeit hängt nicht nur daran, Macht einzudämmen, sondern auch daran, Naturverbrauch einzudämmen. In der Sandton-Perspektive wird sich der Hang bemerkbar machen, die Auseinandersetzung um Fairness und Gerechtigkeit in der Welt als Auseinandersetzung zwischen Nord und Süd darzustellen. Doch "Nord" und "Süd" sind "Zombie-Kategorien" (Ulrich Beck). Die Trennlinie in der heutigen Welt, sofern sich eine ausmachen lässt, verläuft nicht in erster Linie zwischen nördlichen und südlichen Gesellschaften, sondern durch all diese Gesellschaften hindurch. Sie trennt die globale Konsumentenklasse auf der einen Seite von der marginalisierten Mehrheit auf der anderen Seite. Die globale Mittelklasse besteht aus der Mehrheit der Bevölkerung des Nordens sowie den mehr oder weniger großen Eliten des Südens; ihre Größe entspricht in etwa den gut 20 Prozent der Weltbevölkerung, die Zugang zu einem Auto haben. Gleichgültig welcher Hautfarbe, ihre Mitglieder shoppen in ähnlichen Einkaufscentern, kaufen die globalen Marken, schauen ähnliche Filme an und verfügen über das Medium der Angleichung par excellence: Geld. Es gibt einen globalen Norden, wie es auch einen globalen Süden gibt. Bei internationalen Verhandlungen sind freilich alle Scheinwerfer auf den Ausgleich zwischen den Staaten gerichtet, während der Ausgleich zwischen globaler Mittelklasse und marginalisierter Mehrheitswelt ausgeblendet bleibt. Es ist eine Fiktion, dass die Interessen der Armen mit den Interessen der armen Länder identisch sind. In Sandton wird kaum ein Redner versäumen, der Losung "Armutsbekämpfung" seinen Tribut zu zollen. Da lässt sich das Streitthema der Konferenz schon voraussagen: Armutsbekämpfung ja, aber durch wen? Die erste Antwort lautet: Um Armut zu mindern, müssen Investoren, transnationale Unternehmen und Agrarberater gerufen werden. Armut rührt aus fehlendem Einkommen, einem Mangel, dem logischerweise nur durch Teilnahme an Wirtschaftswachstum abgeholfen werden kann. Eine exportgestützte Wirtschaftsentwicklung zur Armutsbekämpfung, oft auch von den internationalen Finanzinstitutionen eingefordert, setzt darauf, das Los der Armen durch mehr Globalisierung zu bessern. Ökologische Rücksichten erscheinen da als Luxus; sie würden nur den Aufschwung fesseln. Anders die zweite Antwort: Armut rührt nicht von einem Defizit an Geld, sondern an Macht. Daher müssen, um Armut zu mindern, die Rechte der Armen gestärkt werden. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen oft Rechte auf Land, auf Naturressourcen, auf Habitat, auf Gewerbefreiheit oder Selbstorganisation, die es gegen Landbesitzer, Administration, Großprojekte, mafiose Strukturen oder den Staat durchzusetzen gilt. Dabei kommt der Ökologie ein hoher Stellenwert zu: weil Savannen, Wald, Wasser, Ackerboden, auch Fische, Vögel oder Rinder wertvolle Mittel zum Lebensunterhalt sein können, fällt hier das Interesse an Existenzsicherung mit dem Interesse an Umweltschutz überein. Niemand ist stärker auf intakte Naturräume angewiesen als jenes Viertel der Weltbevölkerung, das für Nahrung, Kleidung, Medizin und Kultur direkt von der Natur lebt. Zerstörte Naturräume verschlimmern die Notlage der Armen, während prosperierende Ökosysteme sie weniger verwundbar machen. Ökologie ist deshalb ein Kernstück jeglicher Politik, welche die konkrete Existenzsicherung der Armen und nicht ein abstraktes Wirtschaftswachstum im Auge hat. In der Sandton-Perpektive werden alle "Armutslinderung" fordern, sich aber über "Reichtumslinderung" ausschweigen. Dabei ist eines nicht ohne das andere zu haben. Denn ein Blick auf die Weltlage zeigt, dass die Faustregel noch gilt: 20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen etwa 80 Prozent der Weltressourcen. Die 20 Prozent Überkonsumenten ziehen Öl und Gas, Eisenerz und Uran, Fleisch wie Fisch, Holz und Boden zum überwiegenden Teil auf sich. Wie ein Spinnennetz, das über die Welt geworfen ist, sorgt ein Geflecht von Ressourcenflüssen dafür, dass die transnationale Konsumentenklasse (vorwiegend in den OECD-Ländern) die meisten Naturschätze vereinnahmt. Indem der Norden weiterhin den globalen Umweltraum überproportional nutzt, verengt er den Spielraum der Südländer. Deren Ansprüche auf Gerechtigkeit verlangen, den Spielraum zu erweitern; ohne ökologische Abrüstung des Nordens kann es daher nicht mehr Gerechtigkeit geben. Was für den Ausgleich zwischen Ländern der Fall ist, gilt noch mehr für das Verhältnis zwischen der globalen Konsumentenklasse und der marginalisierten Mehrheit. So stehen ländliche Gemeinschaften häufig in latentem, manchmal offenem Konflikt mit den lokalen und globalen Mittelklassen. Auf ihre Lebensräume richtet sich der begehrliche Blick der Ressourcenindustrie. Da wird der beste Boden genutzt, um exotische Früchte anzubauen; da werden Berge aufgebrochen und Flüsse vergiftet, um Metalle für die Industrie zu holen; da werden Urwälder gerodet und verschmutzt, um Öl zu fördern. Wie etwa Großstaudämme errichtet werden, um Wasser in entfernte Städte zu transportieren, ist gerade in Johannesburg präsent. Beim 500 Kilometer entfernten Lesotho Highlands Water Project werden 20.000 Bauern aus ihren Lebensräumen vertrieben, um Wasser für die Großfarmen weißer Landwirte, für Industrie und die Bewohner von Sandton und Johannesburg zu gewinnen. Weil zudem solch massive Investitionen den Preis in die Höhe treiben, sehen sich heute die Bürger Sowetos außerstande, ihr Wasser zu bezahlen - sie bleiben auf dem Trockenen. Das Interesse der globalen Mittelklasse an Ressourcen für erweiterten Konsum kollidiert mit dem Interesse der "Vierten Welt", der indigenen Völker und Stammesgesellschaften, der Bauern, Viehzüchter und Fischer. Entschärfen lässt sich der Konflikt nur, wenn die Konsumentenklasse ihre Nachfrage zurückbaut. Mit anderen Worten: der Übergang zu einer ressourcenleichten Wirtschaftsweise ist nicht nur eine Sache des Umweltschutzes, sondern auch der Fairness. Denn die Ökologie des Reichtums ist über (trans-)nationale Nachschubketten mit der Ökologie der Armut verschränkt. Wer die Rechte der Machtlosen stärken möchte, kommt nicht umhin, die Ansprüche der Kaufkräftigen einzudämmen. Armutslinderung setzt Reichtumslinderung voraus. Es besteht kein Zweifel, dass Gerechtigkeit nicht auf dem Verbrauchsniveau der nördlichen Volkswirtschaften erreicht werden kann. Das Wohlstandsmodell der reichen Länder ist nicht gerechtigkeitsfähig; es kann nicht quer über den Globus demokratisiert werden. Vor allem im Norden wird es um einen gerechtigkeitsfähigen Wohlstand gehen. Und im Süden ist der Wunsch nach Gerechtigkeit nur legitim, wenn er einen ressourcenleichten Wohlstand im Auge hat, andernfalls ist er ökologisch gefährlich und sozial trennend. In einer begrenzten Welt verlangt Gerechtigkeit, wie Johannes Rau einmal gesagt hat, nicht in erster Linie zu lernen, mehr zu geben, sondern weniger zu nehmen. Was im Gegenüber von Sandton und Soweto gilt, gilt auch im Weltmaßstab: Der Durst Sowetos kann eben nicht gestillt werden, ohne die Swimmingpools auf den Hügeln von Sandton in Frage zu stellen. Fußnote: * Mehr dazu lesen: "Das Joburg Memo: Ökologie - die neue Farbe der Gerechtigkeit" ist der Titel des Memorandums der Heinrich-Böll-Stiftung für Johannesburg. Der Autor war Koordinator der Autorengruppe von 16 Aktivisten, Intellek-tuellen, Politikern und Managern aus Nord und Süd. Das Memo - etwa 90 Seiten stark - stellt den bisher umfassendsten Beitrag aus der internationalen Zivilgesellschaft für die Debatte anlässlich des Weltgipfels dar. Es ist, außer in Englisch, auch in Deutsch, Spanisch, Italienisch und Russisch erhältlich unter www.joburgmemo.org . taz Nr. 6802 vom 17.7.2002, Seite 4, 377 TAZ-Bericht Wolfgang Sachs, taz-Serie: VOR DEM UN-NACHHALTIGKEITSGIPFEL IN JOHANNESBURG (3) taz muss sein: Was ist Ihnen die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen uns, wenn Sie diesen Betrag überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank Berlin (BLZ 100 100 10), Konto-Nr. 39316-106 © Contrapress media GmbH Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags zurück